Neonatale Alloimmune Thrombozytopenie (NAIT)
Diagnose bei/nach Geburt. Thrombozytopenie des Neugeborenen, verursacht durch diaplazentar übertragene Alloantikörper, die gegen väterlich vererbte humane Plättchenantigene (HPA) gerichtet sind. Die Pathogenese ist analog der des Morbus hämolyticus neonatorum (z.B. auch Rhesusunverträglichkeit).
Häufigkeit: 1:1.000 Geburten. Bis zu 60% der NAIT-Fälle sind Erstgeborene. Die NAIT-Fälle werden leider oft übersehen und dann nicht adäquat behandelt. Die Folgen können schwerwiegend sein. Ähnliche Beobachtungen werden auch in anderen Ländern wie z.B. Großbritannien gemacht (Murphy et al. 1999, Turner et al. 2005, Tiller et al. 2009). Etwa 1/3 aller neonatalen Thrombozytopenien mit Werten < 150.000/µl und die meisten neonatalen Thrombozytopenienen mit Werten < 30 – 50.000/µl werden durch Plättchenantikörper verursacht. Die NAIT zeigt gravierende Verläufe (siehe unten) und kommt häufiger als mehrere andere neonatale Krankheiten vor, für die es Screeningprogramme gibt.
Empfehlung: Nach unserem Erachten muss daher bei jeder Geburt ein kleines Blutbild einschließlich Thrombozytenzählung gemacht werden.
Antikörperspezifität: ~75% Anti-HPA 1a (Zwa oder PlA1), ~15% Anti-HPA 5b (Bra), ~4% Anti-HPA 15b und andere.
Krankheitsbild
Meist fallen zunächst nur petechiale Blutungen auf. Größere Blutungen können bereits erfolgt sein oder sind noch möglich. Der Verlauf variiert stark und ist weitgehend unabhängig von der Antikörperspezifität. Gelegentlich zeigt sich eine klinische Verschlechterung in den ersten 48 h post partum. Die Thrombozytopenie hält wenige Tage bis 2 Wochen an, in Einzelfällen länger als 5 Wochen. Ca. 15-20 % der betroffenen Kinder erleiden Hirnblutungen (davon 50 % bereits intrauterin!).
Mögliche Folgen: Hydrocephalus, Blindheit, geistige und körperliche Behinderung. Das Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften ist 50 oder 100 % gemäß Hetero- bzw. Homozygotie des Vaters. Daraus ergibt sich die Indikation zur Überwachung einer späteren Schwangerschaft in einer damit erfahrenen Einrichtung.
Siehe "Fetale Alloimmune Thrombozytopenie"!
Diagnose
Klinik: Ausschlussdiagnose! Jede isolierte Thrombozytopenie beim Neugeborenen, die nicht anders erklärt werden kann, spricht zunächst für das Vorliegen einer NAIT. Petechien oder größere Blutungen werden beobachtet. Neurologische Symptomatik, Befunde der Hirnsonografie. Zur Differentialdiagnose siehe Tabelle!
Labor: Thrombozytopenie, evtl. kombiniert mit einer Anämie und/oder einer Hyperbilirubinämie durch Blutung und Hämatomresorption. Typischerweise hat die Mutter keine Thrombozytopenie.
Ein verdächtigtes Antigen (Gen) ist bei dem Vater nachweisbar, jedoch nicht bei der Mutter. Oft wird der entsprechende Plättchenantikörper im mütterlichen Blut mit allogenen Plättchenproben nachgewiesen, seltener nur mit denen des Vaters. Ein misslungener serologischer Nachweis des Antikörpers schließt eine NAIT nicht aus. Auch in schweren NAIT-Fällen gelingt der Antikörpernachweis gelegentlich erst nach mehreren Tagen - und in bis zu 10 % der Fälle (nach einigen Autoren bis zu 30 %) überhaupt nicht. Der Vater wird serologisch und/oder genetisch auf homo- oder heterozygote Kodierung des Antigens untersucht. Auch auf mütterliche Antikörper gegen humane Leukozytenantigene (HLA) muss rechtzeitig untersucht werden, um die Verträglichkeit der Thrombozyten von Fremdspendern sicherzustellen. Zugunsten der Aussagekraft bestimmter Methoden und für die Transfusionspraxis müssen die ABO-Blutgruppen von Mutter, Vater und Kind bestimmt werden.
Erforderliches Untersuchungsmaterial
Mutter: 30 ml EDTA-Blut, 10 ml Nativblut, 10 ml Heparinblut
Vater: 10 ml EDTA-Blut, 10 ml Heparinblut
Kind: Vom zuständigen Labor benötigte kleinste Menge EDTA-Blut für Kleines Blutbild mit Thrombozytenzahl und Blutgruppenbestimmung
Therapie
Thrombozytentransfusion (Indikation und Therapieziel): Der klinische Verdacht erzwingt wegen der erheblichen Konsequenzen, insbesondere zur Abwehr dauerhafter ZNS-Schäden, die unverzügliche Transfusion von Thrombozyten bei Werten < 50.000Thrombozyten/µl, unabhängig von Blutungszeichen. Ziel der Transfusion ist das Anheben der kindlichen Thrombozytenzahlen auf Werte deutlich > 100.000/µl. Wegen der häufig schnell abfallenden Thrombozytenwerte im Vergleich zu onkologischen Patienten wird der relativ hohe Grenzwert von 50.000/µl hier angegeben. Es wird abgeraten, das Neugeborene mit hoch dosiertem i.v. Immunglobulin zu behandeln. Das Neugeborene darf bei sehr niedrigen Thrombozytenkonzentrationen keinen Erschütterungen ausgesetzt werden, die eine Hirnblutung zur Folge haben könnten. Deshalb darf das Kind z.B. in ein anderes Behandlungszentrum nur unter kontrollierten Bedingungen verlegt werden.
Erste Transfusion nach der Geburt: Für die unverzügliche Transfusion werden bevorratete, HPA-1a-negative (nur wenn diese nicht verfügbar sind, HPA-unausgewählte: (Kiefel et al. 2006, tePas et al. 2007), HLA-unausgewählte Fremdspenderthrombozyten transfundiert. Sie sind zugunsten der Unverzüglichkeit der Transfusion nicht gewaschen, aber bestrahlt. Die ABO-Blutgruppe dieser Fremdspenderthrombozyten ist die des Kindes (Vermeidung einer Hämolyse kindlicher Erythrozyten). Falls die Blutgruppe des Kindes nicht bekannt ist, Thrombozyten der Blutgruppe AB, wenn nicht verfügbar, notfalls A.
Weitere Transfusionen: Therapie der ersten Wahl sind bevorratete HPA-1a-negative oder bei bereits erkannter anderer Spezifität des mütterlichen Antikörpers entsprechend HPA-negative Thrombozytenkonzentrate von Fremdspendern. Wenn der Spender Antikörper gegen die Blutgruppen A oder B hat, müssen die Konzentrate gewaschen werden (einmal zentrifugieren, Spenderplasma durch AB-Plasma ersetzen). Nur, wenn solche Konzentrate auch überregional nicht verfügbar sind, werden gewaschene Thrombozyten von der Mutter transfundiert. Sie können Vorteile haben, wenn der Anstieg der Thrombozyten im Kind nach Transfusion von Fremdspenderthrombozyten gering ist und nur wenige Stunden anhält. Das Waschen ist notwendig, um die mütterlichen HPA-Antikörper im Präparat zu entfernen. Dieses muss außerdem bestrahlt werden. Die Präparate sollten ggf. HLA-verträglich sein. Zugunsten einer einfachen und sicheren Transfusion sollten die Thrombozyten von Spendern die Blutgruppe O haben und gewaschen sein. In Engpasssituationen kommen nach Antigen-(Gen-)Analysen usw. die Geschwister der Mutter als Spender in Frage.
Dosierung: Vom Thrombozytenkonzentrat werden 10 ml/kg Körpergewicht im Verlauf einer Stunde appliziert. Es muss technisch ausgeschlossen werden, dass die Thrombozyten im Präparat sedimentieren und so seitlich in der Spritze oder im Beutel bleiben (Abhilfe: z.B. vertikale Stellung des Infusionsautomaten oder häufiges Schwenken).
Therapiekontrolle: Thrombozytenzählung täglich sowie unmittelbar vor und 1 Stunde nach Ende einer Transfusion. Sistieren von Blutungen (u.a. keine neuen Petechien), Hirn-Sonografie etc.. Nach Beginn der Normalisierung der kindlichen Thrombozytenwerte kann es in Einzelfällen einige Wochen noch einen thrombozytopenischen Verlauf geben. Deshalb sind entsprechende Labor- und Sonografiekontrollen nach der Entlassung aus der Klinik durch die Hausärzte erforderlich, bis Normalbefunde festgestellt werden.
Rechtliche Aspekte
Standardisierte Dokumentation der klinischen und anamnestischen Daten sowie der Funktions- und Laborbefunde. Dokumentation des Tages und der Uhrzeit, zu der die Diagnose gestellt wurde. Aufklärung der Mutter über mögliche geistige und körperliche Behinderungen, über die Wiederholungswahrscheinlichkeit bei erneuter Schwangerschaft, über die Notwendigkeit der Betreuung durch ein spezialisiertes Zentrum bei Beginn einer erneuten Schwangerschaft, die Notwendigkeit der Behandlung nur mit HPA- und ggf. HLA- ausgewählten Thrombozytenkonzentraten bei dem thrombozytopenischen Kind bis zum Überstehen des Blutplättchenmangels und bei der Mutter, wann immer sie wegen einer Thrombozytopenie in ihrem Leben transfundiert werden muss. Notwendigkeit der hausärztlichen Kontrolle von kindlichen Thrombozytenwerten und des Allgemeinbefindens nach stationärer Entlassung, wenn zum Zeitpunkt der Entlassung die Thrombozytenwerte zwar deutlich angestiegen, aber noch nicht im Normalbereich waren. Dokumentation aller dieser Aufklärungen im Arztbrief, den auch die Mutter erhält, und Notfallausweis für die Mutter mit Eintrag der HPA- und ggf. der HLA-Antikörper.
Literatur
Historisches
Lehrbuch
Übersichten
Leitlinie
Verschiedenes
Hamburg und Bad Bramstedt, Dr. med. J. Neppert, Dr. med. E. v. Witzleben-Schürholz
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